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«Die Kuppe geht voll, vertrau mir», Renault-Alpine A110-1658

Published in radical-classics.com

Renault-Alpine A110

Noch nicht erstellt
Wir streben also mit vollem Hammer dieser Links Fünf über Kuppe entgegen. Es wird sehr laut und der Güterweg immer schmaler. Man sitzt so tief in einer A110, dass dir schon beim Anblick einer Bodenwelle ganz heiss am Hintern wird. Auch der Schub wirkt in dieser engen Kammer anders. Präsenter, dramatischer. Derart in rasendes Ungleichgewicht geraten, fühlt man sich von der hauchzarten Polyester-Karosserie so beschützt wie eine Wade im Nylonstrumpf, denkt in diesem Moment ungefähr: Die Links Fünf über Kuppe sollte sich jetzt besser ausgehen.

Wir haben nie darüber geredet, ob sich Gerry Brandstetter, der Besitzer dieser fabelhaften Ex-Werks-Alpine, darüber im Klaren war, dass sein Spruch beim Losfahren in etwa James Deans Einschätzung der Gesamtsituation Sekunden vor dem Aufprall entsprach. Aber natürlich ist nichts passiert. Der Mann ist schliesslich Arzt, durch einen Eid dem Wohle der Menschheit und seiner Beifahrer verpflichtet. Wir hatten für  die Fotofahrt den Güterweg vorsorglich blockiert, zudem breitete sich in der Abflugzone die endlose Weite des Weinviertels und ganz junger Kukuruz aus. Die Kuppe ging voll, locker sogar.

Dass dieser Moment trotzdem nicht unspannend war, lag einfach am Auto. Spätestens nach der Kuppe kapiert man, dass die Alpine erfunden wurde, um den Übermütigen die Demut zurückzugeben. Nie vorher oder nachher gab es einen derart atmosphärisch hochverdichteten Sportwagen. In der Intensität des Fahrerlebnisses wirken dagegen selbst die ärgsten Neunelfer jener Tage – nun ja – gutbürgerlich. Denn im Grunde war die Alpine ein übermotorisiertes Plastiksackerl, lange vor der Erfindung des Plastiksackerls.

Die A110, auch Berlinette genannt, entstand 1962 als eine Art Evolutionsmodell aus der A108 (siehe Kasten), deren Basis der kreuzbrave Renault Dauphine bildete, in Serie mit 850 Kubik und 30 PS bewaffnet.
Renault-Alpine A110.

Der stolze Besitzer Gerry Brandstetter zeigt die Grössenverhältnisse.

Renault-Alpine A110.

Innen ist es: intim.

Mit der Präsentation des Nachfolgers R8 war für die A110 ein modernerer Teilespender verfügbar, gleichzeitig tauschte Alpine-Gründer Jean Rédélé den Blechboden gegen ein schlichtes zentrales Stahlrohr, das nun die Achsen miteinander verband. Damit sich die leichte Polyesterform nicht durchbog, wurden Streben einlaminiert. Die bloss hüfthohe Berlinette brachte es auf nur 600 kg – auch wegen der zierlichen Technik: Aus dem Einliter-Vierzylinder im Heck zauberte Haus-Tuner Marc Mignotet maximal 70 PS.

Für Klassensiege reichte das in den Anfangsjahren allemal, besonders, als sich der geniale Amédée Gordini des R8 annahm. Seine Version quetschte aus 1100 ccm bis zu 92 PS. Damit liessen sich Kreise um die 356er-Porsche aus höheren Hubraumklassen fahren. Mehr als Klassensiege und Achtungserfolge im motorsportlichen Unterhaus waren aber nicht drinnen, auch wenn die 115 PS einer späten Serien-1300er für einen Hunderter-Sprint unter acht Sekunden reichten.Renault-Alpine A110.

Der stolze Besitzer Gerry Brandstetter zeigt die Grössenverhältnisse.

Renault-Alpine A110.

Innen ist es: intim.

Renault-Alpine A110.
Renault-Alpine A110.
Renault-Alpine A110.
Ausserhalb der Grenzen Frankreichs blieben die Alpines viel zu lange eine unbekannte Grösse – auch weil Renault trotz der sportlichen Erfolge Jean Rédélé nicht adoptierte, wie das Ford mit Colin Chapman tat. Erst gegen Ende der Sechziger, als die A110 praktisch schon zum Alt-Polyester gehörte, kamen die Dinge langsam in Fahrt. Renault übernahm den Vertrieb und bezahlte das Motorsportbudget des Winz-Herstellers (dessen Produktion noch immer bei weniger als 500 Autos pro Jahr lag).

Karrieremässig war die A110 ein extremer Spätzünder, denn welcher andere Sportwagen kam erst im achten Produktionsjahr zu namhaften Erfolgen? Bei der Monte 1970 brachte  Jean-Pierre Nicolas mit einer 1300er die 2,2-l-Porsche ernsthaft in Bedrängnis, im gleichen Jahr gingen sich noch drei Gesamtsiege aus, unter anderem bei der Akropolis – damit hatte das Plastiksackerl bewiesen, dass es ziemlich reissfest war.

Im grossen Stil satisfaktionsfähig wurde die Berlinette erst mit dem 1600er des Renault 16. 1971 gelang ein Dreifachsieg bei der Monte, wobei, peinlich, peinlich, der bereits als hoffnungsloser Loser abgestempelte Ove Andersson den versammelten Franzosenstolz (Andruet, Thérier, Darniche, Vinatier) schlug. Der Rest der Saison wurde dann überhaupt ein einziger Triumphzug des Schweden. In der Saison ’72 zerbrach das Werksteam an Getriebeproblemen, das Jahr darauf wurde, nun mit 1,8 Liter Hubraum und bis zu 185 PS, zu einem Durchmarsch, wie ihn die Rallyewelt noch nicht gesehen hatte: 1,2,3,5,6 bei der Monte und überlegener Gewinn der erstmals ausgeschriebenen Marken-WM – das alles im elften Produktionsjahr der A110.

1973 war die Alpine am Höhepunkt ihrer Karriere und zugleich am Ende. In der nächsten Saison zeigten der sophistische Lancia Stratos und die Escorts mit ihren Formel-2-Motoren, dass die Zeiten von Lowtech-Plastik endgültig vorbei waren. Neben den späten Meriten war das Erstaunlichste an den Alpine-Erfolgen zweifellos, dass die Berlinettes trotz ihrer zierlichen Statur bei jeder Art von Rallye gewinnen konnten.
Renault-Alpine A110.

Der stolze Besitzer Gerry Brandstetter zeigt die Grössenverhältnisse.

Im Schnee- & Eis-Chaos der Monte, bei den Asphalt-Heizereien sowieso, aber auch auf den brutalen Pisten in Portugal, Griechenland oder Marokko. Die Zähigkeit war dem geringen Gewicht geschuldet: Eine Berlinette peppelte selbst über den ärgsten Schotter wie ein flacher Stein über die Wasseroberfläche. Es half aber auch, dass eine Alpine selten alleine kam. In den Heydays waren im Starterfeld immer genügend A110 vorrätig, sodass die Tapfersten der französischen Artistentruppe den totalen Fight ausrufen konnten (und auch durften). Im schlimmsten Fall blieb eine Alpine übrig, und die gewann.

Verfolgt man die Fahrgestellnummer von Gerry Brandstetters Berlinette, stösst man auf einen Einsatz bei der Marokko-Rallye 1974 unter Ove Andersson. Ursprünglich nur als Trainingsauto vorgesehen, rückte sie auf, weil das Einsatzfahrzeug in letzter Minute kaputt ging. Besonderes Erkennungsmerkmal ist der geänderte Ventildeckel: Normal musste das Öl tief hinten im Motorraum eingeflösst werden, da die R16-Maschine verkehrt eingebaut wurde. Andersson bestand aber auf eine praktikablere Lösung mit umgeänderter Einfüllöffnung hinten. Nachdem in den letzten Jahren die Preise strunznormaler 110er bis an die 100.000-Euro-Grenze explodiert sind, will man gar nicht wissen, was ein Auto mit greifbarer Geschichte wert sein könnte.

Ein echtes Gruppe-4-Werksauto also, macht gut 180 PS bei weniger als 700 kg – was im Leistungsgewicht selbst heute noch Gleichstand mit einem modernen Neunelfer bedeutet. Der Vergleich ist aber Blödsinn, weil Plastiksackerl nichts mit Herrenhandtaschen gemeinsam haben.

Schon der Einstieg ist mehr als sportlich: Hochgewachsenen reicht eine Berlinette nicht einmal bis zur Hüfte, nach ein wenig Bodenakrobatik hat man eine nahezu liegende Sitzposition nur eine Handbreit über dem Asphalt eingenommen. Die grosse Überraschung dabei: Die Platzverhältnisse sind intim, aber durchaus bequem. Man fühlt sich wie eine Sardine in der Dose, aber mit ordentlich Öl dazwischen. Wegen der im Wege stehenden Radkästen sitzen Fahrer und Beifahrer in leichtem V-Winkel zueinander, der Platz an der Pedalerie empfiehlt knapp geschnittenes Schuhwerk.

Aus atmosphärischen und wohl letztlich auch geruchstechnischen Gründen hat Gerry Brandstetter den hinteren Tank nicht montiert. Die Werksfahrer sassen quasi mitten in einem Spritfass: Ein Tank lag über den Füssen, der zweite war direkt im Rücken der Piloten montiert.

Zum Fahren wäre zu sagen: Es ist anstrengend, laut und eigentlich unpackbar fordernd. Denn die Berlinette stand nie für technische Exzellenz, sie war bloss leicht und flach. Der simple Stossstangenmotor verweigert allzu hohe Drehzahlen, bietet aber wegen seiner langhubigen Auslegung ordentlich Punch in jeder Lebenslage – Alltagstauglichkeit und Laufkultur sind sogar ganz beachtlich für einen astreinen Wettbewerbsmotor. Die schwachen, schlecht zu schaltenden Getriebe fallen in die Kategorie Erbkrankheiten der Berlinette, da macht auch die Brandstetter-Alpine keine Ausnahme – genauso wie die allgemeine Fragilität oder die archaische Pendelachse.

Die schlechte Verarbeitungsqualität war legendär, jede halbwegs fachgerecht restaurierte Alpine ist heute in deutlich besserem Zustand als bei der Auslieferung. Zitat aus einem AMS-Test von 1971: «In der relativ kurzen Zeit, die der Alpine bei uns verbrachte, traten unter anderem Schäden an Motor, Kupplung, Getriebe und der Elektrik auf …»

Die Pendelachse wiederum verschafft der Alpine bei jedem Ausfedern X-Beine, die plötzliche Sturzveränderung plus Heckmotor-Moment verlangen dann nach zügigem und fachgerechtem Handeln im Grenzbereich. Aber schon vorher lässt das knallharte Fahrwerk nichts im Unklaren, es zeigt alles an: Bodenwellen, Teerrillen, mikroskopische Frostaufbrüche, und wer mag, kann beim Überfahren von Kanaldeckeln die einzelnen Lochreihen mitzählen. Diese Direktheit plus der tiefe Schwerpunkt machen jenes Alpine-Gefühl aus, das Ove Andersson folgendermassen ausdrückte: «Man kann mit einer Alpine Kurvenfolgen schneller fahren, als man denken kann.»

Herzlichen Dank an die «auto revue». Wieder einmal ein Beweis dafür, dass Kompetenz und Schmäh sich bestens miteinander vertragen.

Mehr Renault gibt es im Archiv. Und die Alpine-Historie reichen wir noch nach.


Original: radical

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